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Harley-Davidson LiveWire: Strompionier

LiveWire 2018. Spain

Harley-Davidson geht voran: als erste etablierte Töff-Marke lancieren die Amerikaner ein vollwertiges E-Motorrad. So früh dran zu sein, hat seinen Preis.

Pioniergeist. Das ist ein Wort, das sich sehr gut auf die USA reimt, viel weniger jedoch auf die ur-amerikanische Motorradmarke Harley-Davidson. Paradox also, wenn «Milwaukee» jetzt eine grosse Portion Pioniergeist demonstriert. Als erster etablierter Motorradhersteller lanciert HD einen vollwertigen/starken Töff mit Elektroantrieb. Die LiveWire.

Ende 2019, inmitten von Klimadebatte und beschleunigter Elektrifizierung der Autos, scheint dieser Schritt zwar logisch. Ist er aber definitiv nicht. Denn noch ist die Batterietechnik nicht da, wo sie die Motorrad-Ingenieure gerne hätten. Was bedeutet, dass ein Elektrotöff noch nicht alles so gut kann wie ein Benziner, namentlich weit fahren und schnell «tanken». Und der Druck zum Stromer, den die CO2-Ziele auf die Autobranche ausübt, fehlt im Motorradsektor. Noch.

Harley hat’s nun trotzdem gewagt. Ausgerechnet jene Marke, die für Schwermetall und grossvolumige, konstruktiv dem Klassischen verpflichtete Verbrennungsmotoren bekannt ist. Der Schritt ist wirklich enorm, denn nicht nur mit dem Elektromotor bewegt man sich in neuen Sphären. Gleichzeitig bricht die LiveWire auch fahrdynamisch und ergonomisch mit fast allem, was dem harten HOG-Reiter heilig ist. Niemals zuvor gab es eine Harley-Davidson, die eine kurvige Strecke dermassen zügig durcheilte wie eben der neue Stromer.

Die hohe Dynamik-Kompetenz liegt ebenso am Fahrzeugkonzept Roadster wie am Antrieb. Leistungsgewicht, Sitzposition, Assistenzsysteme – in allen Bereichen ist die LiveWire sportiver eingestellt als jede Harley vor ihr.

Macht dies aus der LiveWire einen guten, einen der besten aktuell erhältlichen Elektrotöff? Zweifellos. Gross ist die Konkurrenz noch nicht, doch davon später. Reicht es gar, ganz einfach ein gutes Motorrad zu sein? Wir werden sehen.

Erster Eindruck nach einem viertelstündigen Einrollen in der Peripherie von Barcelona: Das könnte passen! Angenehme, natürliche Sitzposition. Ausser man steigt direkt von einem Streck-das-Bein-Cruiser um, denn der Kniewinkel ist relativ eng.

Als erstes ist Entschlossenheit gefragt: Die LiveWire steht ziemlich schräg auf dem Seitenständer, so dass man die 250 kg mit kräftigem Zug aufrichten muss. Der Bodenkontakt ist, dank niedriger Sitzbank, auch für Kurzbeinige problemlos.

Talentiert für Kuren wie wohl noch keine Harley vor ihr: die LiveWire

Beim Manövrieren im Schrittempo irritiert auf den ersten Metern das Balancegefühl. Es entsteht der Eindruck, unnötiges Gewicht hänge am Lenker. Ein Eindruck, der sich später beim Rumkurven durch die nahen Hügel teilweise bestätigt. Vielleicht liegt es an der Gewichtsverteilung, vielleicht am Reifen (Michelin Scorcher, wird man vermutlich bald mit sportlicherem Gummi ersetzen), dass man öfter einem minimalen Einklappen der Front entgegenwirken muss. Nichts Dramatisches, man schiesst sich drauf ein, doch es fällt auf, weil die LiveWire ansonsten ein wirklich gut funktionierendes Motorrad ist, unabhängig vom Antrieb.

Natürlich verschwindet das hohe Gewicht auch in voller Fahrt nie ganz, quirlig-wirblig ist die Harley nicht. Dafür stabil, am Heck vielleicht etwas gar straff in der Grundeinstellung. Liesse sich bestimmt mit mehr Zeit über das voll einstellbare Showa-Federbein optimieren.

Harley-Davidson sieht die LiveWire als Motorrad, das für wenig Erfahrene tauglich, für Cracks aber dennoch anregend sein soll. Ich denke, das passt. Kenner können damit richtig böse anrauchen. Weniger Routinierte schätzen, dass sie in keiner Beziehung nervös oder aggressiv wirkt. Nicht im Handling. Nicht beim Bremsen, wo ernsthafte Brembo-Ware eher defensiv denn bissig ausgelegt ist und Kurven-ABS ein Sicherheitsnetz für bedrohliche Lagen spannt. Kritikpunkt ist der Bremshebel, breit und klobig, von den übrigen Harley übernommen und wie diese unpraktisch für zarte Bürohände.

Vom Gesetz her ist die Strom-Harley nur bedingt einsteigertauglich, nämlich nur noch 2020. Es ist das letzte Jahr des sogenannten Direkteinstiegs und somit das letzte Jahr, in dem Töff-Neulinge ab 25-jährig ihren Einstand gleich auf einem Motorrad des Kalibers einer LiveWire geben könnten.

2021 hingegen wird der Stromer von Harley gesetzlich kein Einsteiger-Bike mehr sein, denn sie übermarcht mit ihren 60 kW Dauerleistung deutlich die Kategorie A2 (bis 35 kW), die ab 2021 für alle Einsteiger ab 18 Jahren (und für zwei Jahre Fahrpraxis) verbindlich sein wird.

Doch zurück zu den wenig Routinierten, zu den Vorsichtigen vielleicht auch. Sie sollten, wie oben beschrieben, mit dem Harley-Roadster durchaus zurechtkommen. Allerdings sollten sie nicht übermütig am Drehgriff (Gasgriff ist ja hier ein obsoleter Begriff) zupfen. Denn dann, hoppala, geht richtig was!

Schon auf dem Papier macht die LiveWire mächtig vorwärts: Von 0 auf 100 km/h in 3,0s, so sagt Harley. Das ist oberste Beschleunigungs-Liga, ermöglicht durch einen tiefen, einem steigenden Vorderrad entgegenwirkenden Schwerpunkt und der am Grip-Grenzbereich entlang tastenden Traktionskontrolle. Dabei gilt, wie generell für Elektromotoren: es zoomt dich nach vorn, ganz ohne Drama. Vehement und doch seidenweich.

Der E-Motor glänzt silbern, der schwarze Akku versucht sich in diskret, was angesichts des Volumens nur ein bisschen gelingt

Dabei hört man, falls man sich überhauptet darauf achtet, nur ein ansteigendes Singen oder Heulen. So könnte eine Turbine klingen, es ist aber nur das Surren von Getrieberädern, welche die Kraft des längs montierten E-Motors um 90 Grad aufs Ritzel leisten, das wiederum über einen Zahnriemen – hier haben wir ausnahmsweise traditionelle Harley-Technik – das Hinterrad antreibt.

Für seinen Erstling ruft HD keine motorischen Superlative auf. 78 kW Spitzenleistung sind, auf konventionelle Motorräder übertragen, Mittelklasse. Das Drehmoment ist, verglichen mit E-Roadstern von noch wenig bekannten Herstellern wie die Zero SR/F oder Energica Eva eher bescheiden, die Übersetzung dafür kurz und die Drehzahlen bei Bedarf (bis 15’000/min) hoch.

Das ist Hintergrundwissen, das man fürs Fahren nicht benötigt. Überhaupt ist ja wenig Knowhow vonnöten, wenn es um E-Fahrzeuge geht. Twist and go heisst das in der Heimat von Harley, drehen und Fahren. Kein Kupplungs- und kein Schalthebel, keine Gänge. Leistung ist stets und im Handumdrehen bereit, man packt jede Überholmöglichkeit und auch jede Lücke auf der Autobahn hat man schneller ausgefüllt, als man «Zackbumm» denken kann.

Gute, eher defensiv abgestimmte Brembo-Bremse. Eher auf Dauerleistung denn maximalen Grip ausgelegte Reifen von Michelin.

Bemerkenswert auch, wie schnell man selbst als alter Töffbueb den Kupplungshebel nicht vermisst. Ich griff nach einer Minute Fahrzeit einmal ins Leere, danach nie mehr… Harley-Davidson nennt seinen Permanentmagnet-Synchronmotor Revelation. Wer noch nie einen Strom-Töff pilotieren durfte, für den dürfte „Gas geben“ mit der LiveWire wahrlich eine Offenbarung sein.

Vier Fahrmodi sind programmiert, in denen Leistung, Leistungsentfaltung und Stärke der Regeneration unterschiedlich kombiniert werden. Zusätzlich lassen sich persönliche Modi konfigurieren. Kräftiges Regenerieren beim Verzögern verlängert die Reichweite, befriedigt emotional und lässt sich schön in einen runden Fahrstil integrieren.

Damit man im Stand nicht versehentlich am Quirl dreht, weil man vergisst, dass das Motorrad «läuft», spielt die LiveWire einen (in der Stärke variierbaren) Puls ein. Ohne Gang zum Einrasten könnte abschüssiges Vorwärtsparken heikel sein, doch ein einrastender Seitenständer dürfte unschöne Szenen vermeiden.

Der Motor also ist fantastisch, wenngleich nicht so charakterstark wie ein grollender V2 oder ein schreiender Reihenvierer. Der Energiespeicher ist es weniger, das hat sich inzwischen herumgesprochen. 15,5 kWh fasst der Lithium-Ionen-Akku, 13,3 davon sind verwendbar.

158 km weit soll man gemäss WMTC im gemischten Verkehr kommen, bei niedrigen Tempi in der City können es auch über 200 km werden. Das ist rund das Doppelte dessen, was 2014/2015 als «Project LiveWire» einem interessierten Probefahr-Publikum präsentiert wurde.

Geladen wird über Haushalt-Stecker (gemächlich) oder mit Gleichstrom (von leer zu voll in einer Stunde). Die Sorglosigkeit des Losfahrens, an die man sich mit Benzinmotoren gewöhnt hat, stellt sich so nicht ein. Fürs Pendeln hingegen passt es bestens, für Feierabendrunden auch.

Jeder und jede darf selber entscheiden, ob das reicht. Auch die Preis-Frage fällt in die Kategorie des höchst Subjektiven. Objektiv nämlich ist die Rechnung mit 36’500 Franken gesalzen. Die Erklärung von Harley-CEO Matt Levatich, es handle sich bei der LiveWire eben um ein «Super Premium Produkt» genügt eigentlich nicht. Der Hinweis, man wolle jedes Motorrad mit Gewinn verkaufen, auch E-Motorräder, schon eher. Wenn man bedenkt, dass in der Autowelt derzeit wohl kein E-Fahrzeug kostendeckend verkauft werden kann, ist Levatichs Ziel natürlich ambitiös.

Insofern hat das kühne Preisschild auch etwas erfrischend Ehrliches: Liebe Leute, E-Mobilität ist vorläufig ein teures Vergnügen, auch wenn politisch motivierte Flötentöne etwas anderes glaubhaft machen wollen. Immerhin: Einmal voll tanken kostet zuhause keine 3 Franken, die Bremsen werden wenig gebraucht und Wartungsarbeiten am Antrieb dürften komplett ausbleiben.

Als Fazit ziehen wir den Hut: Während die japanischen Hersteller Pläne für E-Motorräder von einer Schublade in die andere schieben und BMW eigens eine Pressepräsentation organisiert um zu zeigen, dass man ein E-Motorrad zwar bauen könnte aber vorläufig sicher nicht wolle, wagt sich Harley-Davidson vor und zeigt echten Pioniergeist. Damit kann man, wie die Wirtschaftsgeschichte zeigt, zu früh sein. Anderseits kann der Pionier vor den anderen Knowhow aufbauen, das schon bald einmal viel Wert sein kann. Beispielsweise für den gar nicht so unwahrscheinlichen Fall, dass die Klimapolitik den Motorradsektor erfasst (mit CO2-Sanktionen für jedes Motorrad mit mehr als 3,0 l Benzinverbrauch pro 100 km, nur so als Beispiel). Es bleibt auf jeden Fall spannend.

Chapter, so nennen sich die Sektionen der Harley Owners Group – ein Chapter für die Stromer und passend dazu die coole Kutte, das wäre wahrhaftig ein „neues Kapitel“ für die US-Marke.

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