Die Moto Guzzi V85 TT gefällt auf Anhieb, mit italienischem Retro-Chic, ihrem charakteristischen V2 und ihrer unaufdringlichen Art. Man schliesst die Mittelklasse-Reisenduro auf Anhieb ins Herz. Doch darüber hinaus funktioniert sie einfach sehr gut.
„Milde Sorte“, der Titel zu dieser Geschichte, könnte man leicht missverstehen. Klingt irgendwie harmlos, und das darf ein guter Töff ja eigentlich nicht sein. Ich meine es aber sehr wohl als Kompliment, denn diese neue, mittelgrosse Reiseenduro von Moto Guzzi entspricht nicht so ganz dem eher hemdsärmeligen Ruf der Maschinen vom Comer See.
So mancher in der Wolle gefärbte Guzzista hat noch eine Le Mans in seiner Garage stehen, doch denen sei gesagt: Mit ihrer „Möhre“ (sorry Leute!) hat die V85 TT nur noch das ruhig pochende Herz, den längs montierten 90°-V2 gemein. Ansonsten ist sie so angenehm zu bedienen und zu fahren, es flutscht alles dermassen leichtgängig, man könnte meinen, japanische Ingenieure hätten Hand angelegt.
Das beginnt gleich nach dem Start des Motors. Im Leerlauf stampft der 850er gelassen vor sich hin, aus dem optisch ansprechenden (unter Euro 4 keine Selbstverständlichkeit mehr) Auspuff blubbert es nach Manier eines V8.
Man zieht die Seilzugkupplung mit wenig Handkraft, rückt mit feinem Füsschen den ersten Gang rein… und erntet den erwarteten Einrastschlag… nicht: kein Zwick in die Zehen, kein Klonk ins Ohr, es geht also sehr kultiviert los.
Wie Sie spüren, fühlen Sie… nichts, könnte man auch in der nächsten Phase der Untersuchung sagen. Doch, man fühlt ganz leicht den Effekt der längsrotierenden Kurbelwelle, minimal kippt die Guzzi mit Gas im Leerlauf nach rechts, aber wirklich nur minimal und damit deutlich weniger als in älteren Guzzis.
Ebenfalls ganz leicht spürt man den Dreh um die Längsachse beim Drehzahlsprung nach dem Runterschalten, doch auch hier: minimal, nie störend. Auch Moto Guzzi weiss , wie man die Eigenheiten von längs laufender Kurbelwelle und ebenso drehendem Kardan minimiert. Was hiermit auch gleich gesagt wäre: Ja, diese Mittelklasse-Reiseenduro setzt als einzige in ihrem Segment auf den bei Vielfahrern geschätzten wartungsfreien Endantrieb.
Die angenehme Atmosphäre setzt sich hinter dem Lenker fort. Dieser ist nicht übertrieben breit, die Sitzbank ist nicht übertrieben hoch, so dass Menschen ab ca. 170 cm einen sicheren Stand finden. Die Sitzposition insgesamt ist aktiv, recht nahe an der Front, die Knie finden hinter den Zylindern Platz, die Tankformen schmiegen sich ohne Ecken und Kanten an die Oberschenkel. Man fühlt sich auf Anhieb wohl und steigt Stunden später entspannt wieder ab.
Für Menschen mittlerer Grösse passt – für allfällige Staub- oder Schotterpassagen – auch die Haltung im Stehen. Sie spüren die TT zwischen den Knien, während richtig lange Kerle ziemlich haltlos dastehen.
Aber richtig lange Kerle stehen ja auch eher auf richtig harte Enduros, mit endlos Federweg und schwindelerregender Sitzbankhöhe (wie sie Moto Guzzi mit der legendären Quota und der Stelvio auch schon gebaut hat). Die V85 TT hingegen ist eine Reiseenduro der milden Sorte, mit 170 mm Federweg mehr Crossover denn SUV. Und damit der Lebensrealität der meisten Töfffahrerinnen und -fahrern wohl näher als die wilden Adventure-Bikes. Auch wenn der Nachname der V85 TT (für tutto terreno = Gelände) suggeriert, dass man damit auch aufs Matterhorn kommt.
Naturgemäss eher mild agiert der 853-ccm-Motor. Wie seit den 1960er Jahren üblich bei den Motos aus Mandello del Lario, stehen die Zylinderköpfe kühltechnisch optimal im Wind, die Ventile öffnen und schliessen auf Befehl untenliegender Nockenwellen, Stösselstangen und Kipphebel, ergo ohne Anspruch auf hohe Drehzahlen und Höchstleistung.
Dafür geht das Aggregat weich ans Gas, marschiert tieftourig brav los, hat eine starke Mitte und gibt zu verstehen, dass Hochdrehen wenig Sinn macht. Der V2 vibriert ab 4500/min spürbar, aber nicht feinnervig, eher pulsierend und damit nicht unangenehm. 80 PS und ebensoviele Nm Drehmoment reichen fast immer, ausser für zügiges Überholen am steilen Berg oder bei voller Zwei-Personen-plus-Gepäck-Beladung. Drei Fahrmodi modulieren die Gasannahme ein wenig, der Offroad-Modus deaktiviert ausserdem die ABS-Funktion am Hinterrad.
Die glänzende Kehrseite der milden Leistungs-Medaille spiegelt sich im Verbrauch. Und, in Verbund mit dem voluminösen 23-Liter-Fass, in der Reichweite. Es ist schon ein erhebender Anblick im hübschen (vielleicht zu modernen?), blau-weissen Display: 438 gefahrene Kilometer, Restreichweite 175 km… Nach weiteren 40 km, also mit 480 km auf der Uhr, gingen nicht mal ganz 18 Liter in den Tank, was einem Verbrauch pro 100 km von unter 3,7 Litern entspricht. Eine weitere Tankung ergab einen Wert von 3,9 l, und das inklusive eines engagiert gefahrenen Sprints an meinem Hausberg. Unfassbar, diese Ökos aus Mandello… Damit sind Reichweiten von über 500 km pro Tank problemlos machbar.
Die V85 wiegt rund 230 kg, man schiebt sie also nicht einhändig. Doch sie dirigiert sich ausserordentlich locker, trotz langen Radstands und flach stehender Gabel. Ordentlich Hebel am Lenker und schmale Reifen sind die endurotypischen Zutaten zum unangestrengten Handling.
Zugegeben: Steigt man von einem richtig sportlichen Motorrad auf die V85 TT um, ist man vorerst über die fast vollständige Entkoppelung vom Vorderrad irritiert. Zu Beginn fehlt jede Art von Rückmeldung. Doch schnell schiesst man sich darauf ein, und schon bald weiss man: solange der Asphalt trocken ist, kann man entspannt abwinkeln, bis die Rasten kratzen. Wer braucht da noch Feedback?
Schwungvolle Bögen gelingen ganz entspannt, weil sich die Moto Guzzi dabei äusserst neutral gebärdet und auch beim Bremsen in Schräglage nur wenig aufstellt. Beim harten Ankern vor der Kurve geht die Vorderradbremse linear und eher defensiv zur Sache, braucht für volle Leistung also etwas Nachdruck. Doch das kommt dem Fahrrythmus zu Gute, denn so taucht die Gabel beim Bremse anlegen nicht zu zackig ab.
Also, bei all den geschilderten Primärtugenden eines Motorrades, vom Fahrwerk über den Motor bis zu dessen Sparsamkeit und zur Ergonomie herrscht beim Tester ordentlich Begeisterung, immer auch mit Blick auf den sehr konkurrenzfähigen Preis. Kleine Abzüge gibt’s für die Schalter, die sind alle merkwürdig kippelig und ohne Rückmeldung. Beispiel der Blinkerschalter. Diesen einzuschalten funktioniert problemlos, ob man ihn erfolglos ausgeschaltet hat, spürt man beim Drücken aber nicht, dazu muss man aufs Display schielen.
Auch könnte man sich eine Verstellung der Windschutzscheibe ohne Werkzeug oder Elektrik-/Elektronikfeatures wie Heizgriffe wünschen oder eine Ganganzeige, die auch bei gezogener Kupplung funktioniert. Doch viel grösser ist das grosse Ganze: der Spass am Tourer mit Retro-Chic.
Da soll als Letztes noch erwähnt sein, dass man sich den Aufpreis von 600 Franken für die Version mit Zweifarben-Lack und rotem Rahmen leisten sollte. Das sieht dann nochmals schicker aus, findet der Schreibende.
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