Die einen brauchen einen doppelten Espresso oder einen Nasenstüber, um richtig wach zu werden. Anderen „genügt“ die Tuono, der wilde Streetfighter aus dem Veneto.
Basler- und Solothurner Jura mit Nähe zum Aargau, das klingt ja ein bisschen nach niedlich und jöö härzig. Hat ja auch keine richtigen Berge hier, zwischen Scheltenpass, Hauenstein, Kienberg, Staffelegg, Bözberg und wie die Ecken alle heissen.
Aber jöö ist diese Gegend nicht, wenn man versucht, auf den meist schmalen Strassen einer Aprilia Tuono 1100 ein würdiger Sparringpartner zu sein. Mit anderen Worten, ihr mehr als nur ein müdes Lächeln abzufordern. Denn hier geht es dauernd links und rechts, hoch und runter. Unterhaltsam und anspruchsvoll auf jedem Töff gewiss, auf einem Streetfighter von Aprilia aber noch ein bisschen mehr.
Ab und zu brauch ich eine Pause, um den Puls wieder in den zweistelligen Bereich zu drücken. Heissa, ist das hier ein Fest, mit einem unendlich fähigen Fahrwerk und Mörderbremsen durch die Radien zu jagen, über Kuppen zu fliegen (ein bisschen nur) und gelegentlich zu versuchen, in Schräglage auf dem Display zu erspähen, wieviele Grad wirklich anliegen. Hm, bitte nicht nachmachen!
Ja, die Tuono war schon immer ein Töff für wache Zeitgenossen, das hat sich trotz laufender Verbesserungen über die Jahre nicht geändert. Vermutlich sind wir nun einfach noch ein bisschen flotter unterwegs, ähnlich dem Motto der Radrennfahrer: it never gets easier, you just go faster…
Meine OneMoreLap führt mich üblicherweise nicht durch diese tolle Gegend, doch diesmal leitet mich der Jurarücken unterhaltsam zurück ins Gewerbegebiet von Lupfig, wo der Aprilia-Importeur wohnt. Das heisst, ich bin unterwegs, die Tuono zurückzubringen, was nur unter äusserstem Widerwillen geschieht, denn dieses famose Bike ist eigentlich zu schade, jemals zurückgegeben zu werden.
Schon lange und vielleicht am konsequentesten hält Aprilia mit der Tuono den ursprünglichen Geist des Streetfighters hoch. Schon die erste, noch mit V2-Motor anno 2002, war nach jenem puristischen Muster gestrickt: Man nehme einen Supersportler, reisse die Verkleidung weg, montiere anstelle der Lenkerstummel einen Lenker auf Risern, und fertig ist das Spassgerät. Traditionell ist auch, dass Aprilia die Tuono stets mit einer Auswahl von Abdeckungen vor allzu frivolen Blicken geschützt hat. Es wäre also vermessen, von einem Naked Bike zu sprechen, und so passt Streetfighter bestens. Auch weil der Ritt mit diesem scharfen Teil bei aller modernen Fahrbarkeit auch ein bisschen ein Kampf ist, jedenfalls im Angriffsmodus. Ein die Sinne belebender Kampf, wohlgemerkt.
Ein Streetfighter also, der auf dem Supersportler, der RSV4 basiert, aber dann doch nicht unverändert auf die Kundschaft losgelassen wird. So kappt man die Spitzenleistung der 1100 um rund 40 PS. Doch die 175, die übrig bleiben, haben es in sich, zumal sie, wie auch das (unverändert hohe) Drehmoment, rund 2000/min tiefer anliegen. Die verschobene Drehmomentkurve, gekoppelt an eine im Vergleich zum Supersportler um rund 10 % gekürzte Gesamtübersetzung, machen die Tuono wesentlich tauglicher für den Ritt bei Landstrassentempo.
Auch bei der Chassis-Geometrie gibt es Unterschiede zur RSV4, wobei vorab die relativ flach stehende Gabel der Tuono heraussticht. Da wundert die monumentale Stabilität der Maschine – trotz viel Hebelwirkung am breiten Lenker – nicht mehr.
Für 2019 hat Aprilia die Tuono Factory mit semi-aktiven Federelementen aufgerüstet, die innert Millisekunden auf den Input der Sensorik reagieren. Damit gibt der Fahrer ein Stück Einfluss an den Zentralrechner ab. Er muss aber nicht. Denn es gibt nicht nur drei Fahrmodi, in denen die Elektronik den Ventildurchfluss der Dämpfer laufend verändert, es gibt drei weitere, vorkonfigurierte Modi, bei denen die Einstellungen fix bleiben. Obendrein lassen sich alle diese Vorkonfigurationen je nach Geschmack detailliert modifizieren. Nur Schraubenzieher braucht es keinen, alle Einstellungen lassen sich über Knopfdruck/Joystick vornehmen.
Diese ganze Einstellungs-Suite bietet Stoff für zeitraubendes Feintuning. Recht so, diese Maschine verdient es, dass man sich ausgiebig mit ihr beschäftigt. Anderseits wird es vielen gehen wie mir, der aus Bequemlichkeit nur wenig herumgespielt . Der Modus Active road A3 hat mir zu gut gepasst, nur das Motorbremsmoment habe ich ein wenig hochgedreht, weil ich es mag, wenn der Speed vor dem Scheitelpunkt auch am Heck abgebaut wird.
Auch sehr nett für Piloten mit feinem Popometer und gedanklicher Flexibilität: die Charakteristik der achtstufigen Traktionskontrolle kann über Taster am linken Lenker auch während der Fahrt verändert werden.
Da hat Aprilia in die Tuono Assistenzsyteme höchster Güte gesteckt, das ist sozusagen Silicon Valley im Motorrad. Nur die Bedienung hält diesen Standard nicht, schmeckt eher nach Nokia 2005 als iPhone 2019. Die Menus sind logisch aufgebaut, die Bedienung über einen Kippelnippel (der moderne und gleichzeitig grosszügige Mensch würde es wohl Joystick nennen) am linken Lenker ist hingegen nur was für Menschen mit äusserst ruhiger Hand, Typ Top-Chirurg. Und das Display ist zwar schön farbig, aber für heutige Verhältnisse eher auf der kleinen Seite. Ausserdem neigen Tempo- und Drehzahlanzeige zu flackernder Nervosität. Und: dem Blinkerschalter fehlt jedes haptische Feedback. Solche Dinge kann die Konkurrenz – wenn auch nicht durchgehend – besser.
Was man vom Leistungsvermögen und Charakter des V4-Motors nicht behaupten kann. Auch wenn dieses Triebwerk einen rauen Kern hat, der sich bis 3000/min auch immer mal wieder rappelig zu Wort meldet. Über den restlichen Drehzahlbereich ist dieses Aggregat aber der Hammer, und es ist gar nicht so leicht zu beschreiben, was es so besonders macht.
Vereinfacht gesagt: der Aprilia-Motor vereint den Biss eines Reihenvierers mit der Weichheit eines gut gereiften V2. Das Motorkonzept ist – mit zwei Zylinderbänken – aufwendig. Diese Konstruktion (und wohl auch die Programmierung des elektronischen Gasgriffs) schenkt uns aber die weiche Gasannahme und das saugend-bestimmte Motorbremsmoment eines grossvolumigen V2 einerseits, kombiniert anderseits mit der gierigen Drehfreude eines Vierzylinders. Das fühlt sich nicht nur toll an, das hört sich auch famos an. Der V4 startet mit einem Donnergrollen, das mit zunehmender Drehzahl turbinenartiger (ach was sag ich, trompetenmässig!) wird, und das alles leiser als früher, aber immer noch stimulierend genug.
Ein solch bombastischer Motor würde in einem schwierig zu beherrschenden Fahrwerk nicht viel Freude machen. Die Tuono aber gibt, ausser vielleicht in Haarnadelkurven, keine Rätsel auf. Sie geht nicht unbedingt locker-flockig in Schräglage, dafür ist die Gewichtsverteilung zu frontorientiert, und auch der mächtige 200er Hinterradschlappen steht nicht für unbedingte Handlichkeit. Hingegen glänzt sie mit Stabilität, mit lasergenauer Präzision, einem schönen Anlehngefühl und viel Transparenz von den supersportlichen Reifen. Und auch bei schnellen Schräglagenwechseln zeigt die Tuono superpräzise Reaktionen, alles sauber gedämpft. Da bewegt sich nix, da schwingt nix nach.
Angriffig ist das Sitzarrangement: Das dünne Polster ist hoch, höher als die angegebenen 825 mm Sitzhöhe glauben machen, die (rutschigen) Fussrasten sind hoch und weit hinten angebracht. Das ergibt eine ambitionierte Streetfighter-Sitzhaltung, die aber doch deutlich entspannter ist als auf einem Stummellenker-Wetzhobel.
Welches Potenzial die Tuono auch bei Tempi weit jenseits der Tempolimits hat, zeigte der amerikanische Motorradjournalist (also ein Kollege von mir, nur einfach in schnell) Rennie Scaysbrook diesen Sommer am legendären Pikes Peak in den Rocky Mountains: Er siegte beim «race to the clouds» mit neuem Streckenrekord. Es war allerdings auch jenes Rennen, bei dem sein stärkster Konkurrent – wenige Meter vor dem Ziel – verunfallte und starb. Die Leistung von Scaysbrook aber bleibt, zu sehen hier : https://youtu.be/XDpjcB7bMTY . Ab ca. 10.35 min in diesem Video sind übrigens die Gefühle zu besichtigen, die zutage treten, wenn man einen scharften Ritt auf der Tuono hinter sich hat…
Fazit: In seinen Kernkompetenzen zum Thema Fahrdynamik ist diese Aprilia Tuno zweifellos ein Meisterwerk. Der Antrieb ein Gedicht, Handling und Präzision wie von einem anderen Stern und bremsen kann sie auch schier perfekt. Da sieht man ihr kleinere Holprigkeiten bei der Bedienung oder den eher guten Durst (6,4 l / 100 km bei einem Rhythmus, den man mit anderen Töff mit 5 l schafft) gerne nach. Der Preis: für einen Streetfighter schon viel Asche, aber angesichts von Performance und Qualitätsteilen (vom Kippelnippel abgesehen) mehr als gerechtfertigt. Noch anders formuliert: mir fällt kein so hochwertig ausgestattetes Superbike zu diesem Preis ein. Auch die RSV4 Factory kostet rund 5 Riesen mehr, und die kriegt noch nicht mal das semiaktive Fahrwerk.
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