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Kawasaki H2 SX SE+ : Verdichtet Luft, Raum und Zeit

Autobahneinfahrt. Tempo 80. Links segelt ein Pw mit knapp 120 vorbei. Kurzer Blickaustausch, Autofahrer guckt nach rechts, ich nach links. Einen gefühlten Wimpernschlag später Positionstausch: Er blickt nach links und ich nach rechts. Er immer noch auf der rechten Spur, immer noch mit 120. Ich links, vermutlich mit etwas mehr. Und das, wie gesagt, nach einem Wimpernschlag oder zwei.

Auch aus dem Stand ist die Verdichtung von Raum und Zeit heftig, die mit der Kawasaki H2 SX SE+ auf Wunsch möglich ist. Wenn der Start optimal gelingt vergehen kaum mehr als vier Sekunden, bis die Furie bei 140 km/h in den Begrenzer rauscht. Dabei besteht – Elektronik sei dank – keine Überschlagsgefahrt. Die Front wird zwar leicht, vorübergehend surft das Vorderrad knapp über dem Asphalt, doch noch mehr Nervenkitzel lässt die Kawa auch im «Sportmodus » nicht zu. Puhh !

Viel Platz ist hilfreich, wenn man am Potential der H2 auch nur kratzen will

Tja, liebe Freunde, beide Beispiele zeigen, wie schnell einen ein Gerät wie die H2 transportiert – in andere Temporegionen und damit potentiell ins Kittchen. Was wieder einmal beweist, dass niemand sonst auf den Strassen einen solch gefestigten Charakter benötigt wie Motorradfahrer. Die Versuchung, die strengen Regeln guten Benehmens zu dehnen sind ähnlich gross wie jene für einen Wolf beim Bummel durch eine Schafherde.

Das Verrückte dabei ist, dass die Kawasaki H2 SX kein Racebike ist, sondern ein sportlicher Tourer. Wohlgemerkt stecken satte 200 PS in den vier Zylindern eines Triebwerks, das man als Downsizing-Motor bezeichnen kann. Wo Sporttourer vom Schlage dieser Kawa meist mit 1200 oder auch 1400 cm2 wuchern, müssen es hier 998 ccm richten, allerdings unterstützt durch einen Kompressor.

Kawasaki, die Marke mit Grundfarbe Giftiggrün, baut gewissermassen gewohnheitsmässig ultraschnelle, ultrastarke Motorräder. Heutige Ü-50 erinnern sich an die Z1 900 von 1972, von einem deutschen Journalisten liebevoll Frankenstein’s Tochter getauft. Damals genügten 82 PS und ein nervenstrapazierendes Wackelfahrwerk für diesen Titel.

Mix aus analoger und digitaler Anzeige – das TFT-Display zeigt auch Beschleunigungswerte und Schräglagengrade

20 Jahre später waren dann schon 145 PS für den Titel des stärksten und schnellsten Serienmotorrads nötig, den die ZZR 1100 durch die 1990er Jahre trug. Später folgten Flitzer wie die ZX-12R und die ZZR 1400 und 2015 dann die H2.

Auch die H2 hat ihre historische Vorfahrin: Zur selben Zeit wie die Z1 im Markt, setzte Kawasaki dabei auf eine leichte Zweitaktfräse. Der Dreizylinder der H2 mobilisierte 74 höchst unlinear abrufbare PS, was ihr den nicht weniger dramatischen Titel der Witwenmacherin eintrug.


Solch bildhafte Namen (mit traurigem Hintergrund) produzieren moderne Kawasakis natürlich nicht mehr. Zu solide das Fahrwerk der aktuellen H2 SX SE+ (SX steht für die touristischen Versionen, SE für special edition, also die hochwertigste Klasse), zu famos die ABS-Bremsen, bestens kontrollierbar der Motor, der obendrein durch die feinjustierte Traktionskontrolle im Zaum gehalten wird.

Wie Kawasakis Historie zeigt, brauchen sie keinen Kompressor-Motor, um einen ultraschnellen Sporttourer auf die Räder zu stellen. Aktuell im Angebot (aber eher auslaufend) findet sich auch die ZZR 1400, mit gleicher PS-Zahl wie die H2, aber deutlich mehr Drehmoment und damit mehr Bumms aus dem Drehzahlkeller. Die Sitzposition allerdings ist gestreckter, sprich ein wenig sportlich-anstrengender. Dazu sieht sie konventioneller aus als die H2, kostet aber auch fast 6000 Franken weniger.


Nein, für den Kompressor gibt es keinen zwingenden Grund, das hat Kawasaki auch gar nie behauptet. Während kaum mehr Autos ohne Aufladung auf den Markt kommen, herrscht bei den Töff der Saugmotor. Fürs Downsizing fehlt die Motivation, weil die Politik bislang auf Sparziele für Motorräder verzichtet.

Der japanische Grosskonzern hingegen, in dem Motorrad eine kleine Abteilung ist, war motiviert, mit der H2 zu zeigen, was man kann. Die Windtunnel-Spezialisten aus der Aerospace Division sorgten für eine Verkleidung, die verhindert, dass das Fahrzeug zum Flugzeug wird.

Die Ingenieure des Bereich Gasturbinen wiederum lieferten einen für den Anwendungszweck massgeschneiderten Kompressor. Der sitzt hinter der Zylinderbank und drückt die Luft mit max. 2,4 bar in die Ansaugschlünde. Angetrieben wird er über ein Planetengetriebe, das insgesamt für eine 9,2-fache Übersetzung zur Kurbelwelle sorgt. Damit wird der im Durchmesser 69 mm messende Propeller aus geschmiedetem Alu beim oben beschriebenen Ausdrehen mit gegen 130’000/min rotiert haben.

Ins Fahrerlebnis übertragen bedeutet dies unendliche Drehfreude gepaart mit viel Dampf. Bis etwa 5000/min gerät ein erfahrener Töfffahrer noch nicht aus dem Häuschen, doch wie frei und vom Kompressor befeuert der Reihenvierer (dem Supersportler ZX-10 R entnommen) gen rote Zone jubelt, hat höchsten Unterhaltungswert. Unten mild, oben noch ein Stück wilder als andere starke Verbrennungsmotoren, so das Fazit.

Ob das ein Sporttourer in dieser scharfen Form können muss? Natürlich nicht, man wird’s auch selten ausloten, begeisternd ist es dennoch. Und wer unbequemer sitzen und weniger weit reisen will, kann ja die Sportvariante H2 ordern oder gleich zur nicht für die Strasse zugelassenen H2R greifen; dort stehen ziemlich kranke 310 PS im Datenblatt, mit passender Übersetzung klettert der Topspeed auf über 350 km/h. Okay, das ist eher etwas für Leute, die sich mit dem Bugatti Chiron allmählich langweilen…

In der Tourer-Version SX werden die 200 PS in einem ergonomisch angenehmen Paket serviert. Man sitzt tief drin im Motorrad, der Windschutz ist bei legalen Tempi erste Sahne, Vibrationen erreichen den Piloten so gut wie keine, die Lenkerhälften sind hoch genug angebracht, damit man ohne Genickstarre einen Tag lang Haarnadelkurven abreiten kann. Dazu kommen technische Annehmlichkeiten wie Heizgriffe und Tempomat.


Auch das Fahrwerk hat Kawasaki mit Blick auf Meilenfresser abgestimmt. Selbst im Modus Sport arbeitet die Adaptiv-Dämpfung sämig-soft, ohne unter Druck einzuknicken. Die H2 SX ist keine Sänfte wie die Reiseendurodampfer moderner Prägung, fährt sich dafür präziser und mit mehr Rückmeldung.

Das Handling entspricht den Erwartungen, die man an einen starken und nicht ganz leichten Sporttourer haben darf. Die Stabilität ist unerschütterlich, Kurven lassen sich leicht und doch mit etwas Engagement einleiten. Korrigiert man mitten im Bogen das Tempo mit der Vorderbremse, stellt sich die H2 spürbar auf, stemmt sich gegen die enge Linie. Improvisieren geht also nicht ganz einfach von der Hand, entsprechend liegt die Stärke der H2 SX SE+ eher im schnellen, sauberen Strich als im Gewühl kleiner, welliger Strässchen.

Je nach Modus ändert sich das Ansprechverhalten des Motors. Im Modus Road ist die Gasannahme nach geschlossener Drosselklappe sanfter als in «Sport», wenngleich wegen leichter Verzögerung nicht perfekt. Aber das ist nur ein Haar in einer ansonsten äusserst bekömmlichen Suppe.

Die H2-Reihe spielt im Modellprogramm von Kawasaki die Rolle des Hightech-Flaggschiffs (wobei die per 2019 erneuerte Versys 1000 auch enorm viel Technik auffährt, aber halt keinen Kompressor und keine 200 PS). Das hat seinen Preis, doch man kriegt fürs Geld viel Technik und viel Qualität.

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