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Honda Africa Twin: Der Traum von Weite

20YM Africa Twin Adventure Sports

«Ich nehm schnell den Töff, um die Gipfeli zu holen.» Es dauerte dann ein halbes Jahr, bis er wieder kam.

Reiseenduros modernen Zuschnitts sind bekanntlich Allzweckgeräte für so ziemlich jede Aufgabe, die einem Motorradfahrer zwischen die Räder kommt. Doch sie sind auch etwas ganz anderes: Traummaschinen in dem Sinn, dass sie unsere Träume von langen Reisen zu fernen Destinationen beflügeln. Entsprechend heissen sie auch: Super Adventure, Ténéré oder… GS (da ist sie halt, die deutsche Nüchternheit, made by BMW). Auch gut zum Träumen: Africa Twin. Was frei übersetzt etwa heisst, dass man mit einem Zweizylinder-Töff durch Afrika fährt. Durch die Savanne, dass es nur so staubt. Landstriche und Menschen abseits der Touristenpfade erkunden. Einen herzhaften Drift durch die Düne ziehen.

Jenseits der Träumereien haben sich Reiseenduros zum beliebten Multitool für jede Gelegenheit gemausert. Honda wusste stets, dass man dieses Modellsegment nicht vernachlässigen darf, aber nicht immer verfolgte man den richtigen Ansatz. Früh, von 1988 bis 2002, war man mit der 650er, später der 750er Africa Twin, vorn dabei. Danach folgten, mit weniger Erfolg, die gewichtigen Varadero 1000 und VFR 1200 X Crosstourer. Erstere trug ihren Schwerpunkt gefühlt auf Augenhöhe, 275 kg wog letztere im Minimum, mit vollem Ornat waren die 300 kg Leergewicht nicht mehr weit – umso weiter weg war dafür die Geländetauglichkeit beider Kolosse.

2016 aber schwenkte Honda um. Fertig mit grösser und stärker. Finito auch mit V-Motoren: neu kam ein Reihenzweizylinder zum Einsatz. Dafür kehrte der alte Name, Africa Twin, zurück und damit das richtige Mass an Power und Leichtigkeit. Mit «nur» 95 PS (998 ccm) reihte sich die neue Africa Twin in der oberen Mittelklasse ein und rivalisierte mit Maschinen wie die BMW F850GS oder Triumph Tiger 800. Gegen die Power-Enduros vom Schlage einer Ducati Multistrada 1260 oder KTM Super Adventure 1290 hat Honda gar nicht erst versucht anzustinken.

Die neue Leichtigkeit im Umgang und bestimmt auch das gefällige Design machten die neue AT zum Erfolg. In der Schweiz setzte Honda im ersten Jahr 641 Bikes ab, letztes Jahr immer noch 445. Damit ist die Africa Twin im breiten Modellsortiment des Branchenprimus der einzige echte Bestseller.

Das soll so weitergehen, deshalb war für 2020 ein Update fällig. Mehr Hubraum, mehr Power, natürlich. Aber wiederum in Massen. Die Neue heisst CRF 1100 L, bringt es dank mehr Hub (81,5 statt 75,1 mm) nun auf 1084 ccm und durch ein ebenso moderates Leistungplus auf nun 102 PS. Positiv: der Töff wurde nicht schwerer, unter anderem dank des um 2,5 kg erleichterten (Stahl-) Rahmens. Upgrades gab es unter anderem am Elektronik-Paket und der Beleuchtung.

Vor allem hat Honda die Modelllogik umgekehrt. Das Standardmodell ist jetzt die etwas offroad-orientierte Variante mit Schlauchreifen, wenngleich in denselben Radgrössen (21/18 Zoll) und mit identischen Federwegen (230/220 mm). Die Adventure Sports hingegen ist nun die stärker dem Asphalt zugetane Reisemaschine mit elektronisch angesteuerten Federelementen und höherem Windschild. Mit der Standard-Version teilt sie Sitzhöhe und sämtliche Geometriedaten. Die Sitzbank lässt sich in den Höhen 850 und 870 mm arretieren, eine niedrigere und eine höhere Sitzbank verbreitert das Spektrum zusätzlich.

Ich erklimme mit der Africa Twin einen Hügel, parke sie am Rande einer Wiese in den bernisch-freiburgischen Voralpen. Am Horizont die Gipfel von Eiger, Mönch und Jungfrau, eine tolle Kulisse, auch für einige Fotos. Aber ehrlich gesagt hätte ich den Feldweg hierhin auch mit einer Harley geschafft.

Eigentlich ist es für einen Kleingewachsenen wie mich sogar noch paradoxer: Je geländegängiger das Motorrad, desto eher vermeide ich Offroadeinlagen. Denn Geländetauglichkeit bedeutet primär auch lange Federwege zugunsten von Bodenfreiheit und Durchschlagssicherheit. Was für «shorties» wie mich heisst, dass höchstens meine Zehen den Boden erreichen. Muss ich also an ungünstiger Stelle anhalten, kippe ich vermutlich ganz normal um. Was man einem so schönen und ja auch nicht billigen Motorrad nicht so gerne antut. Ergo vermeidet man knifflige Situationen lieber und verzichtet auf Offroad-Einlagen… Nur gute Offroad-Skills oder lange Beine oder am besten beides bieten den Ausweg aus dem Enduro-Dilemma.

Zum Glück können Reiseenduros mehr als bloss Gelände, denn sonst wären sie kaum sinnstiftender als Steigeisen und Kletterpickel in Holland. Denn auch auf der Strasse geniesst man die aufrechte Sitzposition und damit gute Übersicht übers Geschehen, den entspannten Kniewinkel und das leichtfüssige, fluffige Handling, dank breiter Lenkstange und heckorientierter Gewichtsverteilung. Und natürlich den sämigen Komfort, der aus dem langen Federhub resultiert.

Damit ist auch das Fahrgefühl auf der neuen Africa Twin schon mal umschrieben. Auf den eher kurzen Testfahrten wurde der Hintern nicht gross belastet, über die Langstreckentauglichkeit der Sitzbank lässt sich deshalb nur spekulieren. Der Federungskomfort jedenfalls ist – auch ohne das elektronische Fahrwerk – wirklich ausgezeichnet, ohne dass zuviel Sportlichkeit geopfert würde.

Eine interessante Mischung von Charaktertriebwerk und Schmeichler ist der Reihentwin der Honda. Das liegt einerseits am 270-/450-Grad-Zündrhythmus, analog eines 90°-V2 und so klingt der Motor denn auch kernig bollernd, sobald man am Gasgriff zupft. Anderseits liegt es an den Modi für Leistung / Leistungscharakteristik und Motorbremse. Die Eigenschaften lassen sich über ein breites Band vorkonfiguriert oder individuell einstellen, so dass man es, je nach Einstellung, mit einem sanftmütigen Labrador oder mit einem zornigen Amstaff zu tun hat. Das ist bildhaft gesprochen, aber nur leicht übertrieben. Besonders die Motorbremse hat es in sich. Selbst in der mittleren Stufe verzögert der 1100er Twin den Töff bei geschlossener Drosselklappe heftig. Ergo, für geschmeidige Fahrerei die Motorbremse auf 1 zurückdrehen!

Nicht nur bezüglich Motorsteuerung sind die digitalen Einstellmöglichkeiten ausgesprochen vielfältig. Die Manipulationen erfolgen über eine Vielzahl von Knöpfen und Schaltern am linken Lenker, und nicht alles scheint mir intuitiv einleuchtend. Ich würde mal behaupten: Für einen Normalbegabten ist eine Einführung oder eine gründliche Lektüre des Handbuchs erforderlich. Bin mir sicher, dass nicht wenige bei Honda etwas neidisch rüber zu BMW gucken, die mit ihrem Dreh-/Drücksteller ein wirklich einfaches Mensch-Maschine-Interface hingekriegt haben.

Was man hingegen bei den Rivalen aus München/Berlin auf der langen Optionsliste vergeblich sucht, ist eine Schaltautomatik, wie sie Honda anbietet. Elektronisch gesteuerte Doppelkupplungsgetriebe mögen in der Autobranche verbreitet sein, in der Töffwelt hält Honda diesbezüglich das Monopol.

2009 wurde dieses DCT erstmals gesichtet, in der VFR 1200, und war, für ein Erstlingswerk wenig verwunderlich, noch nicht ganz ausgereift. Lange Schaltzeiten (0,5 s) und eine Schaltlogik, die entweder zu sportlich oder zu ökologisch ausgelegt war, nervten mehr als dass sie den Fahrer entlasteten.

Ein Motorrad ohne Kupplungshebel auszufassen, ist auch heute noch ungewohnt. Doch der inzwischen erreichte Reifegrad des Systems dürfte alle überzeugen, ausser einige Hardcore-Romantiker. Laut Aussage von Honda entscheiden sich inzwischen 48 % aller Käufer für ein DCT an jenen Modellen, an denen es verfügbar ist.

Das Bankkonto der Käufer wird durch das DCT um 1300 Franken erleichtert, die Waage um 10 zusätzliche Kilo belastet, doch der Gewinn ist beträchtlich. Beim Reisen oder auch im Alltag ist es einfach die zusätzliche Bequemlichkeit, wenn manuelles Kuppeln und Schalten wegfällt. Und im Attacke-Modus sind es die paar Prozent Hirnkapazität, die zusätzlich in Linienwahl, Bremspunkt und Gasdosierung investiert werden kann, welche den Unterschied machen. Ausserdem funktioniert die Gangwahl in beiden Schaltrichtungen dermassen sanft, dass auch die Sozia einen grossen Komfortgewinn erfährt. Da klonken keine Helme mehr gegeneinander…

Selbst bei Manövriertempo, wo Automatiksysteme oft an Grenzen geraten, funktioniert das DCT von Honda – inzwischen – tadellos. Es gibt nichts Ärgeres, als wenn bei 3 km/h und stark eingeschlagenem Lenker der Zug im Antriebsstrang plötzlich wegfällt. Bei Honda weiss man das und hat das DCT mit der nötigen Feinfühligkeit programmiert.

Das DCT kann als Vollautomatik gefahren werden oder «manuell» mit Daumen und Zeigefinger der linken Hand geschaltet werden. Ich wandte meist einen Mix von beidem an: Grundsätzlich in Vollautomatik, und bei Lust auf mehr Leistung kurz mit dem Daumen einen Gang runtergeklickt. Einige Sekunden nach dem menschlichen Eingriff übernimmt wieder der Computer, das passt in der Praxis bestens.

Einziger Wermutstropfen in der Bedienung des DCT ist, dass es ein wenig Geduld einfordert beim Start. Und Geduld ist, meine Freunde werden es bezeugen, gehört nicht zu meinen Stärken… Im Stand und auch nach Dreh des Zündschlüssels befindet sich das Getriebe in ausgekuppeltem Zustand. Ein Druck mit dem rechten Daumen legt den ersten Gang ein und den Modus D. Dieser ist allerdings dermassen ökologisch ausgelegt, dass wohl 99 von 100 Fahrern schnell in S wechseln wollen, was mit einem längeren Druck auf denselben Schalter möglich ist. Danach geht es noch um S wie Sport, von eins bis drei. Wobei S1 immer noch an recht tiefen Drehzahlen orientiert ist, während S3 dann schon reichlich aggressiv zur Sache geht. In S2 passt fast alles wunderbar. Es kann aber passieren, dass beim Hineinbremsen in Kurven noch geschaltet wird, wo ich es als Pilot bleiben liesse – allerdings geschieht der Gangwechsel so sanft, dass kaum unerwünschte Unruhe in die Maschine kommt.

Wie erwähnt entlastet das System die Kupplungen nach getaner Arbeit; bei ausgeschalteter Zündung ist also stets «N» eingelegt. Nach vorne abfallend sollte man also nicht parken und wenn doch, dann müsste unbedingt die Feststellbremse am linken Lenker gezogen werden.

Zusammengefasst fährt sich eine Honda mit DCT ähnlich unkompliziert wie ein gut flutschender Elektrotöff. Starker Auftritt. Nur das Anlassprozedere, das dauert mir zu lange.

Ein Schmuckstück in Optik und Funktion/Lesbarkeit ist das 6,5-Zoll-TFT-Display. Nicht ganz einsichtig hingegen, warum darunter noch eine schmale LCD-Anzeige mit den teils gleichen Informationen her musste. Klasse wiederum, dass Honda die Möglichkeiten des grossen Displays für die Navigation (über eine Koppelung mit dem Smartphone) nutzt. Hingegen wieder nicht so klasse, dass dies den Eignern von Apple-Geräten vorbehalten bleibt. Hey Honda, Android-Nutzer sind die Mehrheit, und mit Android Auto besteht die analoge Plattform zu Apple Car Play längst…

Och nee, Honda: Bei jedem Einschalten muss man den Käse wegdrücken.

Ansonsten ist die Stelzen-Honda digital hochgerüstet. Basis für die meisten Assistenzsysteme ist ein Sechsachsen-Bewegungssensor (mit Englischem Akronym: IMU). Damit weiss der Bordrechner Bescheid über die Bewegungen der Maschine im dreidimensionalen Raum. Das ermöglicht ein fein regelndes Kurven-ABS, die einstellbare (und ausschaltbare) Traktionskontrolle, die mehrstufige Wheelie-Kontrolle; auch die Hinterrad-Abhebung bei starken Bremsmanövern wird unterdrückt und für die Schaltvorgänge des DCT werden die Infos der IMU (des deutschen Spezialisten Bosch) ebenfalls zu Rate gezogen.

Das ist ziemlich das volle Programm an derzeit im Motorradbereich erhältlichen Assistenzsystemen. Die nächste Eskalationsstufe folgt vermutlich nächstes Jahr, wenn ein Abstandsradar neue Möglichkeiten eröffnet (z.B. in der kommenden Ducati Multistrada).

Die Honda Africa Twin beherrscht erfreulicherweise beide Felder: Jenes der digitalen Neuzeit, aber auch jenes der «Primärtugenden»: Sie fährt und bremst einfach gut, der Umgang mit ihr ist so einfach, wie er mit einem 250-Kilo-Zweirad sein kann. Sie ist kein Blender, keine superstarke Mega-Enduro, aber sie ist unauffällig gut und unauffällig dynamisch. Mehrmals stellten sich Hoppala-Momente ein… uuiii, schon so schnell? Das meine ich echt als Kompliment.

Fährt noch weiter: Die Africa Twin Adventure Sports mit grosser Scheibe, riesigem Benzintank und in schicker Dreifarbigkeit

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