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Yamaha Tracer 900 GT – Aufrecht dynamisch

Fahraktiv gesinnte Töfffahrer haben selbst in der kleinräumigen und hügeligen Schweiz einen Nachteil: leben sie nicht gerade in Innertkirchen oder Chur, müssen sie sich zuerst freifahren, bevor das Vergnügen beginnt. Freifahren von Citystau und Agglofrust.

Das hat seine Tücken. Angesichts von Blechkolonnen und Temposchildern, denen hinten eine Null fehlt, braucht es Nervenstärke, um seinen «Lappen» nicht vorzeitig einzubüssen. Ähnliche Probleme bei Ferienbeginn: Wir wollen Dolomiten, Pyrenäen oder die Provence mit einem feinen Kurvensuchgerät geniessen und möchten doch möglichst frisch und gut gelaunt dort ankommen.

Früher quälte man sich mit einer Sportmaschine bis zu den ersten Kurven, denn wir wussten: Leidenschaft kommt von… Leiden. Heute aber muss ein Allrounder her. Klingt vernünftig. Ja. Langweilig? Oh nein. Jedenfalls nicht die im letzten Jahr lancierte, zweite Generation der Yamaha Tracer 900 – auf der OneMoreLap unterwegs in der Vollversion GT.

Im Schubladensystem der Modelltypen gilt die Tracer als Sporttourer oder, zeitgemässer formuliert, als Crossover. Anders ausgedrückt: man sitzt aufrecht wie auf einer Reiseenduro, lebt aber ohne stelzig lange Federwege und geländetauglich grosse Räder.

Anders als vierrädrige SUV oder Crossover haben ihre zweirädrigen Pendants kaum Nachteile. Oder es ist ein Nachteil, den nur gewisse Menschen als solchen erleben. Denn für Kleingewachsene oder Leute mit knarzenden Gelenken stellt die Besteigung der Tracer durchaus vor eine knifflige Aufgabe.

Das Bike ist zwar recht leicht, aber dennoch hoch, die Sitzbankhöhe beträgt 85 cm. Macht sich das Heck mit den Seitenkoffern zusätzlich breit, wird kleineren Menschen ein sehr entschiedener Beinschwung abverlangt. Eine Hilfe ist da der serienmässige Hauptständer. So kann man sorglos zuerst die linke Fussraste erklimmen und danach lässig aufsatteln. Der Haken daran: Feingliedrigen wird es nur unter Aufbietung aller Kräfte gelingen, die Tracer überhaupt aufzubocken.

Das sind konzeptbedingte Einschränkungen, getreu dem Motto «alles kann man nicht haben». Ansonsten aber erhält man mit der Tracer 900 GT ein extrem stimmiges Paket: druckvoller Motor, leichtes Handling, guter Komfort.

Zum Motor: Seit fünf Jahren baut Yamaha den kräftigen Dreizylinder nahezu unverändert in diverse Modelle. 115 PS reichen «im wirklichen Leben» ja auch locker, die druckvolle Drehzahlmitte sowieso. Ab 5000/min wechselt die Drehzahlanzeige auf Grün, und ab da geht richtig die Post ab.

Die zipfelige Gasannahme wurde im Laufe der Jahre harmonisiert, doch zur Perfektion reicht es immer noch nicht. In den beiden aggressiveren Motorenmodi A und Std. erfolgt der Lastwechsel (Gas zu/Gas auf) zweistufig: zuerst eine kurze Verzögerung, dann setzt hart die Beschleunigung ein. Mit zunehmender Drehzahl entschärft sich das Problem. Im Modus B ebenfalls, doch der nimmt dem tollen Triple zu viel seiner Lebendigkeit; diesen Kompromiss geht man höchstens im Regen gerne ein.

Linker Lenker: die üblichen Verdächtigen plus Einstellung von Traktionskontrolle und Tempomat.

Rechter Lenker: Menuanzeigen über Drehrad einstellbar. Auch die Heizgriffe werden damit eingestellt.


Genau betrachtet ist das, nach Jahren des Nachbesserns, keine wirklich überzeugende Ingenieursleistung. Doch erstens sind die unrunden Gaswechsel eine markenübergreifende Konstante in der Ära der Einspritzmotoren, und zweitens sind sie in der Fahrpraxis längst nicht so schlimm, wie es klingt. Wer wie ich beim Hineinbremsen in die Kurve das Gas bereits wieder minimal anlegt, kriegt vom hakeligen Lastwechsel gar nichts mit…

Der eigentliche Bildschirm wirkt im Instrumententräger etwas verloren. Da wäre doch Platz gewesen für ein grösseres Display…

Die Gangwechsel flutschen, nur der weit abstehende und nicht einstellbare Kupplungshebel ärgert Kurzfinger. Der Schaltautomat beherrscht das Hochschalten – ordentlich bei Teillast in den unteren Gängen, bestens unter Last und ab Gang 4.

Vom Lastwechseln abgesehen herrscht motorenseitig eitel Sonnenschein. Der Vortrieb ist knackig, der Sound bei offenen Drosselklappen ebenfalls. Die Vibrationen kaum nennenswert, zumal man gern früh hochschaltet und bei Tacho 130 grad erst an der 5000/min-Marke knabbert.  Der 18-l-Tank erlaubt Etappen von über 300 km – je nach Fahrweise liegt der Verbrauch bei deutlich unter oder knapp über 5l/100 km.

Längere Etappen lassen sich durchaus in einem Schnuz bewältigen, dank der entspannten Sitzposition. Sie ist auf der Tracer nicht so passiv wie auch mancher Reiseenduro, wenngleich nicht so Vorderrad orientiert wie auf «echten» Sporttourern wie die Honda VFR (der Klassiker) oder die Ducati Supersport (der Geheimtipp). Entsprechend fährt sich die Tracer locker-leicht, ohne sonderlich agil oder gar nervös zu reagieren, verlässlich, aber ohne die chirurgische Präzision echter Sportler.

Das Sitzbankarrangement wirkt zweipersonentauglich, die Griffe sind für den Passagier bestens greifbar. Allenfalls ist die optionale Sitzbank (obendrein beheizbar) zu erwägen, da man auf der Serienbank ganz nach vorn rutscht, wo die Kanten auf die Schenkel drücken.

In der Abwechslung von Bummeln und Brennen erwies sich die Ergonomie als wandelbar. Man kann wie erwähnt entspannt Lümmeln und die Aussicht geniessen. Erhöht man die Körperspannung und entwickelt mehr Druck auf die Front, scheint auch die Tracer an innerer Spannung zuzulegen und fühlt sich wie ein waschechter Strassensportler an – ich weiss, das ist keine wissenschaftliche Erkenntnis, aber was wäre Töfffahren ohne Emotionen?

Die Federelemente sind voll einstellbar. In der Grundeinstellung ist die Tracer angenehm komfortabel abgestimmt, nur schnell aufeinander folgende Kanten erschüttern die Front mehr als erwünscht. Kräftige Bremsmanöver nimmt die Gabel gut gedämpft auf. Hingegen sollte man, in einem Kurs oder auf verkehrsarmem Strässchen, einige Male Notbremsungen üben: das Heck steigt dabei dermassen zackig hoch, dass man sich nicht aufs ABS verlassen kann, sondern den – vielleicht eingerosteten – Lösereflex trainieren sollte.

Das Fazit ist ganz einfach: Auch wenn der Seitenständer zu kurz, das Display klein und der Kupplungshebel nicht einstellbar sind, ist die Yamaha Tracer 900 eine unzweideutige Kaufempfehlung. Sie ist leicht, toll motorisiert, fährt sich entspannt und engagiert, ist gut ausgestattet und sie macht optisch was her. Mehrere Passanten lobten ungefragt den Look der Maschine. Die kantige Erscheinung und die Mattlackierung gefallen. Soll man nicht unterschätzen, sowas hebt den Besitzerstolz!

Wie gewohnt in der Töffabteilung von OneMoreLap sei im Modellprogramm auf interessante Alternativen zum getesteten Bike hingewiesen. Das ist bei Yamaha in erster Linie die um 3000 Franken günstigere und 18 kg leichtere Tracer 700. Für knapp 9000 Franken erhält man einen feinen Sporttourer mit 75 PS starkem Zweizylindermotor und hoher Agilität. Was sollte man daran nicht mögen?

Die kleine Schwester: Tracer 700 – so klein auch wieder nicht.

Wer es sportlicher und dreckiger mag, greift hingegen zur neuen Ténéré 700. Der Name des riesigen Sandkastens im Niger ist Programm, die «kleine» Ténéré mit demselben Zweizylinder wie die Tracer 700 richtet sich an geländekundige Globetrotter. Sie ist ein Rallyemotorrad für Normalsterbliche. Wer diese Wüstengazelle bis Ende Juli 2019 online ordert, bezahlt 11’190 Franken. Danach gilt der Listenpreis von 11’590 Franken.

Yamaha Ténéré 700 – bei diesem Namen muss es ein bisschen stauben.

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  1. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was Yamaha da bei der neuen Tracer geritten hat! Schon bei den MT Modellen, war das negative Feedback groß. Und ich rede nicht nur von mir, man ließt ja viel auf den ganzen sozialen Medien. Technisch sicher die der richtige Schritt, gar keine Frage. Aber optisch!? Die Yamaha Tracer ist viel unförmiger geworden. Dieses komische lang nach unten gezogene Teil am Tank und dieser komische Ausläufer unterhalb des Soziussitzes versauen die Linie meiner Meinung nach total. Auch sieht das 2 geteilte Display gewöhnungsbedürftig aus (hab auf https://moto-inserate.ch/?title=yamaha+tracer zwei Bilder online gestellt, damit man sieht, was ich meine). Mein persönliches Fazit: technisch hui, optisch pfui. Irgendwie bin ich traurig und doch glücklich, das meine 2018er Tracer so wunderschön ist.

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